Heinrich Sohnrey Archiv
und Gedächtnisstätte Jühnde
Sohnrey als Genossenschaftler
Von Pfarrer R. Gell (Stepfershausen)
Es ist eine eigentümliche Erscheinung, dass oftmals im Volksleben von zwei äußerlich ganz verschiedenen Punkten aus, die aber innerlich doch verwandt sind, eine mächtige Bewegung zum Guten ausgeht. Wie die Ellipse zwei Brennpunkte hat, die einander genau entsprechen, deren Beziehungen zu einander trotz äußerer Trennung mathematisch genau festzulegen sind und erkannt werden können, so hat, der Vergleich ist gewiß berechtigt, die neuzeitliche Bewegung für die Hebung des gesamten ländlichen Volkslebens auch zwei Brennpunkte zu verzeichnen. Sie sind äußerlich wohl ganz verschieden und getrennt. Innerlich stehen sie mit einander in Beziehung. Es sind dies das ländliche Genossenschaftswesen und die ländliche Wohlfahrtspflege. Verkörpert sind sie in unserm Raiffeisen und in unserm Sohnrey. Interessant ist es zu sehen, wie die Lebenswerke beider sich entsprechen und gegenseitig befruchtet haben.
Von vornherein sei festgestellt, dass ländliche Wohlfahrtspflege nun und nimmermehr der genossenschaftlichen Arbeit entbehren kann. Ja, man ist andrerseits gar so weit gegangen, zu behaupten, dass ländliche Genossenschaftsbetätigung, wie sie Vater Raiffeisen durch seine Darlehenskassen vorgebildet hat, überhaupt schlechthin die beste Wohlfahrtspflege auf dem Lande sei. Mit Recht stellt daher Sohnrey in seinem „Wegweiser“ in dem Kapitel über die Besserung der ländlichen Verhältnisse auf wirtschaftlichem und auf sozialem Gebiete das Genossenschaftswesen obenan. Daraus erkennt man schon den ganzen Mann, der genügend mit den ländlichen Nöten und Schäden vertraut ist. Aber er ist auch weise genug, als Heilmittel von unübertroffener Güte und Kraft die ländlichen Genossenschaften nach Raiffeisen ins Auge zu fassen und tatkräftig zu fördern.
Man hat ja schon wiederholt darauf hingewiesen, dass der Kern des Genossenschaftswesens nicht durch materielle Vorteile bedingt sei, ja, dass man auf dem Lande überhaupt, wie die Dinge nun einmal liegen und die Charaktereigentümlichkeiten des Bauernstandes sich kennzeichnen, mit genossenschaftlicher Arbeit nur dann auf die Dauer fördernd und segensreich wirken kann, wenn die ideale Seite genossenschaftlicher Betätigung zur Grundlage und Triebfeder gemacht wird. Hatte Sohnrey in Raiffeisens Werk die idealen Züge und ethischen Beweggründe wie wenig andere erkannt, waren es seelenverwandte Empfindungen, die in ihm anklangen, als das Rettungswerk Raiffeisens mit seinem geistesgewaltigen Hintergrund sich vor ihm auftat, so war er es hinwiederum, der mit der ganzen Kraft seiner Überzeugung für die ideale Förderung der ländlichen Genossenschaften eintrat. Er hat, um gleich den Kernpunkt zu treffen, vor allem durch mancherlei für die bäuerlichen Kreise berechneten Veröffentlichungen – ich erinnere z. B. an die Erzählung „Wie die Dreieichenleute um den Dreieichenhof kamen“ und die in seinem „Dorfkalender“ veröffentlichte Geschichte „Wie ein Dorfpfarrer seine Gemeinde buttern lehrte“ – dem Landvolke die ethische Grundlage des Genossenschaftswesens im wahrsten Sinne des Wortes zu Gemüte geführt und so den Boden für das ländliche Genossenschaftswesen vorbereitet.
Man könnte allein ein buch schreiben über Sohnrey als Förderer des Gemeinsinns und der Opferfreudigkeit. Denn das sind die Hauptbeweggründe, die dem ländlichen Genossenschaftswesen sein eigentümliches Gepräge und seine unüberwindliche Kraft verleihen. Lesen wir Sohnreys Aufsätze im „Land“, durchblättern wir seine „Dorfzeitung“ und seinen „Kalender“, erinnern wir uns seines wuchtigen Vortrags auf dem Erfurter Raiffeisenverbandstage im Jahre 1903 und vergessen wir nicht so viele einzelne kleine Bilder und zarte Züge aus seinen Dorfgeschichten: immer wieder ist es der Genossenschaftsgedanke, der hervorspringt, immer wieder ist es Raiffeisenscher Geist, der hell leuchtet. Prozessflucht, Übervorteilung, Einspännerei, Hartherzigkeit und Schadenfreude, Unlauterkeit und Ungerechtigkeit überhaupt, wie oft werden sie von Sohnrey gegeißelt und dagegen Treue, Gemeinsinn und Opfermut, Darangabe und Bruderliebe, der schöne freundnachbarliche Sinn wirkungsvoll zu Gemüte geführt. Diese Gesinnungen sind aber bekanntlich der Nährboden für gesunde Genossenschaftsarbeit. Nach dieser Seite hin verdankt das ländliche Genossenschaftswesen Sohnrey unendlich viel. Er hat sich übrigens auch um das ländliche Genossenschaftswesen schon dadurch verdient gemacht, dass er in Kampfeszeiten in den Tagen, als Stürme das junge Bäumlein „Ländliche Genossenschaft“ umtosten und es zu knicken versuchten, freimütig und wohlgerüstet mit auf den Plan trat in Wort und Schrift. Und die Hauptsache: die Bauernschaft las auch wirklich, was er schrieb, sie nahm seine Worte mit Begeisterung auf und – traute ihrem Sohnrey.
So ist Sohnrey mit Rücksicht auf seine Auffassung der ländlichen Wohlfahrtspflege als begeisterter Genossenschaftler zu kennzeichnen. Obendrein ab er hat er den einzelnen Genossenschaften und Genossenschaftsverbänden des Landes erst die rechten Wege gewiesen, wie sie für sich einzelne Wohlfahrtswerke unternehmen können. Ich meine die genossenschaftliche Wohlfahrtspflege. Nach dem von mir auf dem landwirtschaftlichen Genossenschaftstage zu Münster 1907 gehaltenen Referate erklärte der große Reichsgenossenschaftsverband die ländlichen Genossenschaften zur ländlichen Wohlfahrtspflege deshalb besonders für verpflichtet und geeignet, weil in ihnen die geistigen, sozialen und materiellen Kräfte der ländlichen Bevölkerung in hervorragendem Maße zur Verfügung ständen und die ländlichen Genossenschaften neben wirtschaftlichen auch sittliche und soziale Aufgaben zu lösen berufen seien. Hiernach ist das Wohlfahrtsprogramm Sohnreys von den deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften an- und aufgenommen worden, und es ist nicht nur mit Freuden zu begrüßen, dass es infolgedessen in allen ländlichen Genossenschaften sich mächtig regt, irgendwie ein Wohlfahrtswerk zu Nutz und Frommen des Heimatdorfes zu begründen, sondern die Genossenschaften haben auch – und das ist das Wertvollste – durch Sohnreys Mitarbeit in genossenschaftlicher Wohlfahrtspflege einen sicheren Berater und führenden Freund, so dass sie vor schmerzlich empfundenen Missgriffen und Irrwegen bewahrt bleiben können.
Beredeten Ausdruck fand diese Stellung Sohnreys zum ländlichen Genossenschaftswesen durch seine Wahl in die unter dem Vorsitz des Geheimrats Haas stehende Kommission für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege im Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften. Ihm hat er denn auch treulich seine Mitarbeit gewidmet. Alle Kreise der landwirtschaftlichen Genossenschaften wünschen es herzlich und dringend, dass Sohnreys wissenschaftliche Förderung der Wohlfahrtspflege in den Genossenschaften immer wirksamer sich gestalte.
Wurde im Anfang gesagt, dass wie um zwei Brennpunkte sich die neuzeitliche Hebung des ländlichen Volkslebens bewege, so dürfte es nach dem Gesagten klar sein: Zwischen den Genossenschaften und der Wohlfahrtspflege des Bauernstandes bestehen geheime und doch auch wieder spürbare starke Fäden. Jene gehören zu einander, fördern und befruchten, stützen und schützen sich gegenseitig in hervorragendem Maße. Wohlfahrtspflege und Dorfgenossenschaft, beide verdanken Sohnrey Mark und Kraft, Blühen und Gedeihen. Sie sollen ungeteilt und ungetrennt bleiben immerdar. Ihn selbst aber, unsern Sohnrey, möge Gott noch lange in kräftiger, reger Wirksamkeit erhalten!
Entnommen aus dem Buch „Heinrich Sohnrey von Professor Dr. Eduard Kück“ erschienen zu dessen 50. Geburtstag 1909 bei der Deutschen Landbuchhandlung/Berlin
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